Dokumente zum Thema klassische Musik

Das gesammelte Hüsteln des Herrn Dr. R.
oder
der empfindsamste menschliche Sinn als Schlüssel des Konflikts zwischen Musiker und Publikum

Der Geräuschpegel im Konzertsaal

Im 18. Jahrhundert bestand ein Orchester noch aus 20 Musikern. Mit der zunehmenden Größe der bespielten Säle wuchs der Wunsch nach größerer Lautstärke. Die Anzahl der Musiker wurde drastisch erhöht und die Instrumente mussten so verändert werden, dass die Balance wieder hergestellt werden konnte. Saiteninstrumente verwendeten nun Stahlsaiten, Klaviere waren plötzlich lauter als die Blech- und Holzbläser oder andere Instrumente.

Moderne Sinfonieorchester treten heute oft mit 85 oder mehr Musikern auf. Diese sitzen auf der Bühne oder im Orchestergraben dicht gedrängt und sind dem Geräusch des Nachbarinstrumentes sehr nah ausgeliefert. In der unmittelbaren Umgebung des Musikers kann es zu einem Geräuschpegel um 90dB, mit Spitzen um 120-130dB während der fortissimo Passagen kommen. 90dB entsprechen in etwa der Lautstärke eines Mopeds oder einer Kreissäge. 120dB sind mit dem Lärm einer Trillerpfeife oder eines Presslufthammers in nächster Nähe vergleichbar und können schon nach kurzer Einwirkzeit Hörschäden verursachen.

Durch tägliche Proben und Auftritte sind die Musiker über einen relativ langen Zeitraum einer Belastung ausgesetzt, die zu einer Hörschädigung führen kann. Die größte Gefahr besteht für die Musiker, welche direkt vor den Blechbläsern oder in der Nähe der Holzbläser positioniert sind. Abgesehen von den Hörschäden, können die Musiker die leiseren Passagen und die Anweisungen möglicherweise nicht mehr hören.

Der Dirigent hingegen ist ungleich weniger gefährdet, weil er mehr Abstand zu den Musikern hat, als diese untereinander. Genauso wenig sind die Zuschauer einer Geräuschbelastung von 80-90 dB ausgesetzt. Der Sound des Orchesters folgt wie jeder Klang den Gesetzen der Physik. Im Quadrat der Entfernung nimmt seine Lautstärke kontinuierlich ab, wird verdrängt oder überlagert. Das heißt, der Nachbarmusiker in 1m Entfernung ist 90dB ausgesetzt, der Dirigent in 2m Entfernung nur noch 84dB, das Publikum vorn im Saal (8m Entfernung) 72dB und in 32m Entfernung 60dB.

Warum stören den Musiker Geräusche aus dem Publikum?

Enthusiastischer Beifall geht mit einer Lautstärke von ca. 130dB einher. Während das Publikum in 30m Entfernung etwa 60dB durch die Musik ausgesetzt ist, empfängt der Musiker den Beifall aus gleicher Entfernung noch mit 100dB. Bedenkt man dazu, dass jede Verstärkung um 10dB als Verdoppelung der Lautstärke empfunden wird, ist der Musiker dem Beifall von doppelter Lautstärke seiner eigenen, mit 90dB ohnehin schon sehr lauten Musik ausgesetzt. Damit wird klar, dass inmitten eines musikalisch aufgebauten Spannungsbogens in einem Stück, Beifall durchaus als störend empfunden werden kann.

Reizquelle Orchester Flüstern -10 dB Hüsteln -25 dB Klatschen
1 m 90 dB 30 dB   60 dB   130 dB
2 m 84 dB 24 dB   54 dB   124 dB
4 m 78 dB 18 dB 8 dB 48 dB 23 dB 118 dB
8 m 72 dB 12 dB 2 dB 42 dB 17 dB 112 dB
16 m 66 dB 6 dB   36 dB 11 dB 106 dB
32 m 60 dB 0 dB   30 dB 5 dB 100 dB
64 m 54 dB 0 dB   24 dB   94 dB

Tab.1: Abnahme der Lautstärke in Entfernung von der Reizquelle, vom Orchester in Richtung Publikum und umgekehrt, in rot wurden die erwarteten Werte angegeben, wenn ein Schallschutz verwendet wird

Die Wahrnehmung eines Geräusches als Wohl- oder Mißklang hängt von der Qualität des Geräusches ab. In einem Konzert wird Musik genau wie Beifall als erwartetes Geräusch gewünscht, selbst leiseste Gespräche oder Hüsteln und Husten sind unerwünscht. Ähnlich ist es in einer Wohnung. Trotz geringerer Lautstärke der Musik aus der Nachbarwohnung, lenkt diese von dem eigenen Gespräch oder dem laufenden Fernseher ab und wird als Lärmbelastung empfunden. Solisten sind im Vergleich zu Orchestermusikern den Publikumsgeräuschen noch stärker ausgesetzt. Sie befinden sich hinter dem Schallkegel ihrer Musik, sind den ankommenden Geräuschen aus dem Publikum aber frontal ausgeliefert.

Während die Musik als Wohlklang beim Zuhörer für Ausgeglichenheit sorgt, erzeugt zeitgleich das als Lärm empfundene Hüsteln oder Flüstern beim Musiker Stress. Nicht zuletzt fühlen sich auch andere Besucher des Konzerts durch die permanenten Zusatzgeräusche belastet. Das Musizieren wie auch das Hören erfordern eine hohe Konzentration, die unter Stress erheblich gemindert werden kann.

Ich höre, was ich hören will

Das trainierte Gehör jedoch kann aus einer Vielzahl unterschiedlicher Schallereignisse diejenigen herausfiltern, welche für das Bewusstsein von Interesse sind. Dieser "angepeilte" Schall ist in diesem Moment wichtiger und deutlicher hörbar als alle ringsherum stattfindenden Schallereignisse. Das gilt für Musiker und Zuhörer gleichermaßen.

Die Empfindlichkeit für Geräusche ist individuell und nimmt mit zunehmendem Alter ab. Im Alter von 60 bis 65 Jahren leiden bereits 30 % der Bevölkerung an einem Hörverlust, der die Fähigkeit zur Wahrnehmung von alltäglichen Klängen signifikant beeinträchtigt.
Betrachtet man die Tatsache, dass das Konzertpublikum ein Durchschnittsalter von knapp 60 Jahren aufweist und die Musiker nicht so selten nur halb so alt sind, liegt der Grund für die Konflikte auf der Hand. Ein spielender, hörtrainierter, junger Musiker steht auf der einen Seite, einem möglicherweise schwerhörigen, hüstelnden, alten Zuhörer, mit einem schlecht eingestellten Hörgerät auf der anderen Seite gegenüber. Andererseits bedeutet dieser Hörverlust auch eine Chance für die Musiker. Denn das sehr gut hörende Publikum ärgert sich nämlich so sehr über die häufig schlechte Akustik, dass es zum nächsten Konzert gar nicht mehr kommt.

Da vor allem die Zuhörer um die 60 Jahre das zahlende Publikum darstellen, wäre es vermessen, diese aufgrund ihrer altersbedingten Handicaps aus dem Konzertsaal zu verbannen. Die Vermutung: Husten während eines Konzertes solle mangelnde Aufmerksamkeit signalisieren, kann getrost als zornige Reaktion auf verletzte Eitelkeiten verstanden werden. Bei dem vorherrschen Preis-Leistungs-Niveau (50-98 Euro pro Karte für schlechte Akustik) müssten Besucher schon geradezu bösartig sein, um viel Geld für ein Konzert zu bezahlen und dieses permanent stören zu wollen. Es ist viel eher zu vermuten, dass es ihnen so wichtig ist, dieses Konzert zu hören, dass sie sich trotz einer Erkältung oder einer chronischen Atemwegserkrankung nicht von diesem Erlebnis abhalten lassen. Ob aus Geiz, weil die Karte mit dem Abonnement schon bezahlt ist oder aus wirklichem, musikalischem Interesse spielt keine Rolle.

Ich kann so nicht arbeiten

Der professionelle Musiker unterscheidet sich von Hobbymusiker nicht unbedingt in der Virtuosität, sondern vor allem durch die Aufführungen vor Publikum, mit allen Begleiterscheinungen. Wenn es für Musiker schlecht oder nicht möglich ist, die belastenden Umgebungsgeräusche auszublenden, müssen passive Hilfen in Anspruch genommen werden. Das Publikum zu disziplinieren, wird kaum gelingen.

Die deutschen Arbeitsrichtlinien und Berufsgenossenschaften empfehlen ab einer Lautstärke von 85 dB das Tragen eines Gehörschutzes, ab 90 dB ist das Tragen Pflicht. Innen-Ohr-Stöpsel können je nach Filter den Schall um 10-25 dB mindern. Das bedeutet, das Flüstern im Publikum wäre auf der Bühne kaum noch wahrnehmbar und das Hüsteln würde um mehr als 75 % leiser wahrgenommen (Tabelle 1). Der Gebrauch von Ohrschützern oder -stöpseln bei Aufführungen ist bereits üblich, allerdings nur, wenn das Orchester in einem Studio oder hinter einem Sichtschutz, wie im Orchestergraben arbeitet.

Für kleinere Ensemble, die auf die direkte Kommunikation miteinander angewiesen sind, ist das Tragen von Gehörschützern während der Aufführung wahrlich keine Lösung. Wenn Kammermusik auch als solche aufgeführt wird und nicht in Sälen mit 1100 und mehr Zuschauern, ist die Wahrscheinlichkeit auch viel geringer, sich durch erkältete Zuschauer gestört zu fühlen.

Es sollte möglich sein, die Kommunikation zwischen den Künstlern und dem Publikum nicht auf eine Autogrammstunde am Ende des Konzerts zu beschränken. Wenn jeder über die Probleme des anderen informiert ist, gibt es vielleicht eine größere Chance vorsichtiger miteinander umzugehen.

Kleiner Konzert Knigge

Beifall: Es ist besser Signal am Ende eines Stückes abzuwarten und sich dann mit Beifall zu bedanken. Der Dirigent wendet sich mit einer Verbeugung dem Publikum zu. Auch kleinere Ensemble signalisieren deutlich wann ein Stück zu Ende ist, indem sie Blickkontakt mit dem Publikum aufnehmen. Spontaner Beifall gehört in Jazzkonzerten zur Kultur, gehört sich aber in klassischen Konzerten überhaupt nicht.

Getränke: In Konzerthäusern und Theatern gibt es immer eine kleine Bar, in welcher während der Pause und nach der Vorstellung Getränke angeboten werden. Um die Lärmbelastung durch umfallende Gläser oder sprudelnde Wasserflaschen gering zu halten, ist es nicht erlaubt, Getränke mit in den Saal zu nehmen.

Handy: Wer ins Konzert geht, sollte bereit sein, sich auf ein Hörerlebnis einzulassen. Ein klingelndes Mobiltelefon ist unhöflich, weil es die Musiker und alle anderen Besucher stört. Für ganz wichtige Personen gibt es den Vibrationsalarm ohne Ton. Wenn das Risiko besteht, herausgerufen zu werden, sollte man sich freundlicherweise gleich an den Rand setzen, um im Notfall nicht zwanzig Leute aufstehen zu lassen.

Husten-Schnupfen: Bei einer ernsthaften Erkältung sollte man sich sehr genau überlegen, ob man sich selbst und den anderen einen Gefallen tut, ins Konzert zu gehen. Wenn Nase und Rachen entzündet sind, ist auch die Hörfähigkeit stark eingeschränkt. Man stört nicht nur durch die Geräusche, sondern sitzt als Bakterienmutterschiff inmitten vieler Menschen, die sich anstecken könnten.

Kleidung: Eine Kleiderordnung für klassische Konzert gibt es nicht mehr. Man sollte darauf achten, dass man in seiner Kleidung lange still sitzen kann, ohne dass sie drückt. Außerdem sind viele Konzertsäle oder Kirchen kaum beheizt, so dass man eher damit rechnen muss, zu frieren. Die Stola ist zwar nicht sehr modern, macht aber Sinn.

Sitzpolster: Einige Theater sind so schlecht bestuhlt, dass am Eingang Sitzpolster angeboten werden. Es muss jeder selbst entscheiden, ob das sinnvoll ist. Aber klassische Musik kann sehr langatmig werden, wenn man nicht mehr entspannt sitzen kann.

Zugaben: Bei jedem Konzert wird vom Orchester oder Ensemble oder Solisten zumindest eine Zugabe durch Beifall, nicht durch Rufe verlangt. Das ist eine Art festgeschriebenes Gesetz und gehört zum guten Stil.

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